Mehr Platz für Konflikte!

Empfindest du Konflikte und Spannungen wie unsichtbare Schreckmonster, den du lieber aus dem Weg gehen möchtest - gar von den du wegrennen willst? Damit bist du nicht allein-e. Die unerwünschte Nachricht zuerst: Konflikte können wir zwar eine Weile ignorieren, aber nicht aus unserem Leben verbannen. Die gute: Wir können lernen und praktizieren, entspannt in Konflikte  zu sein. Ja, und wie?

Alles fängt bei der haltung an

Um Konflikte zu besänftigen schwören manche auf eine Methode, drei Formulierungsschritte, die Nutzung einer Liste von 20 Wörter, fünf mal ausatmen... Mein Interesse liegt nicht auf bestimmte Methoden, die wir nach bestem Gewissen lernen und anwenden. Es geht mir um die Haltung, die wir in verspannten Situationen einnehmen - sowohl uns selbst als auch anderen gegenüber.

 

Was verstehe ich unter "Haltung"? In diesem Begriff fasse ich die Erlaubnisse, die wir uns und anderen, meist auf unbewusster Ebene, geben oder verweigern. Diese Grundannahmen über uns und die Welt haben wir von Kind auf erlernt. Oft tragen wir sie als Erwachsene noch mit uns. Sie beeinflussen unsere Wahrnehmung und unser Verständnis von Interaktionen und führen zu Verhaltensmuster, welche die Grundannahmen wiederum bestätigen.

 

Beispiele solcher Botschaften können sein: "Meine Meinung ist weniger wertvoll als die der anderen", "ich darf nicht nein sagen", "Andere wissen besser Bescheid als ich", oder auf einem anderen Ende des Spektrums: "Andere haben meist keinen Schimmer", "ich muss immer alles selber machen" usw.

eine kleine daten-erhebung

Wenn du gerade bereit bist, dich auf ein Experiment einzulassen, nimm dir jetzt 5 Minuten Zeit - konzentriert. Stell dein Telefon auf leise. Sitzt du gemütlich, aufrecht? Wie ist dein Atem? Achte kurz auf deinem Körper - spürst du Spannungen, wenn ja wo? Nimm dies einfach wahr, ändere nichts.

 

Jetzt erinnere dich an einer Situation, die du als Konflikt wahrgenommen hast und mit Stress verbindest. Vielleicht auf Arbeit, deine Meinung unterschied sich von der einer Kolleg*in. Vielleicht kommt eine alte Erinnerung, als du als Kind etwas wolltest, und die Erwachsenen etwas anderes wollten. Vielleicht in einem intimen oder freundschaftlichen Rahmen. Oder auf einem Treffen oder Plenum - als scheinbar alle A wollten, und du B. An welchen Sätzen kannst du dich erinnern? Was hast du gehört? Was hast du gesagt?

 

Jetzt kehr zurück zu deinem Körper. Prüfe, ob sich was geändert hat. Wie ist dein Atem jetzt? Gibt es neue Empfindungen in deinem Körper? Prüfe insbesondere den Nacken... die Schultern... den Brustkorb... den Solar-Plexus... die Bauchregion... den Rücken... Lass dir Zeit, um Empfindungen kommen zu lassen.

 

Was sind deine Impulse, was würde dein Körper jetzt am liebsten tun? Geht deine Energie eher nach innen - rollst du vielleicht die Schultern nach vorne, hast du Impulse dich tendenziell zu verstecken, merkst du Selbstvorwürfe in deinen Gedanken?

Oder geht deine Energie eher nach außen - vielleicht als Ärger, Wut, dein Brustkorb bläht sich auf, und du merkst  vorwurfsvolle Gedanken über die anderen und deren Verhalten?

 

Nimm diese Informationen erstmal nur mit. Atme dreimal tief ein und aus, schüttele die Erinnerung ab und komm wieder in die Gegenwart an.

manipulation, Hilflosigkeit, abwehr

Unsere Bezugspersonen haben eine Vorbildfunktion gehabt, und deren Konfliktverhalten hat uns gelehrt, wie mit Spannungen umzugehen ist. Wie sind sie mit uns in Konflikte umgegangen? Wie sind sie mit anderen Erwachsenen - Co-Eltern, Vermieter*in, Lehrer*in, Schaffner*in usw - in Konflikte umgegangen? Was haben sie uns beigebracht, wie wir mit anderen Kindern umgehen sollten?

Mögliche Strategien sind:

  • Ich kann jemanden schubsen
  • Ich kann den Blick nach unten richten und so tun, als hörte ich nichts und wäre nicht da
  • Ich kann einen Witz machen und vom Thema ablenken
  • Ich kann viele verärgerte Du-Botschaften schreien
  • Ich kann hilflos gucken und weinen
  • Ich kann kühle, distanzierte Vorwürfe formulieren
  • Ich kann mich zurückziehen und tagelang nicht mehr reden
  • Ich kann mich auf Regeln, auf Grundsätze, oder auf andere Personen "in meinem Lager" berufen, um meiner Position mehr Gewicht zu verleihen
  • Ich kann so tun, als würde ich die andere Meinung teilen und meine eigene verstecken
  • ...

All diese Strategien versuchen, dem Konflikt zu entgehen. Entweder versuche ich die andere Person dazu zu bringen, ihre Position zu verlassen - oder ich zwinge mich selbst in eine andere Position. In beiden Fällen begebe ich mich mehr oder minder subtil in einem Machtkampf und erzeuge eine Spannung, die den Lösungsraum verkleinert. Ich erlaube mir oder der anderen Person nicht, mit unseren Unterschieden in Kontakt zu bleiben. Denn für viele von uns ist es schwer auszuhalten, wenn Unterschiede im Raum stehen, die erstmal unversöhnlich scheinen.

Offenheit, ehrlichkeit und respekt

Es gibt einen Raum, in dem Spannungen und Unterschiede genannt werden und stehen können; Wo sie mit relativer Entspannung und Interesse angeguckt werden können; Und wo es Platz gibt: für neue Ideen, für Meinungswechsel, für Kreativität und weitere Perspektiven, so dass  ein Lösungsweg sich abzeichnen kann.

Die Haltung in diesem Raum basiert auf gegenseitige Erlaubnisse, wie:

  • Ich darf eine andere Meinung haben als du - Du darfst eine andere Meinung haben als ich.
  • Ich darf diese andere Meinung formulieren und deutlich machen - Du darfst diese andere Meinung formulieren und deutlich machen
  • Ich darf Ärger, Frust, Wut, Enttäuschung spüren und benennen - du darfst Ärger, Frust, Wut, Enttäuschung spüren und benennen.
  • Ich darf meine Meinung ändern - du darfst deine Meinung ändern.
  • Ich darf unseren geteilten sozialen Raum gestalten - du darfst unseren geteilten sozialen Raum gestalten
  • Ich darf nein sagen - du darfst nein sagen
  • ...

Bin ich in diesem Raum, sind Positionen, die von meiner abweichen nicht bedrohlich. Ich kann interessiert zuhören und offen über mich reden. Ich lade meinen Gegenüber ein, ehrlich mit mir zu sein und Transparenz zu schaffen. Sind alle Karte auf dem Tisch, kann ein kooperativer Lösungsprozess starten.

 

Die Arbeit, die ich spannend finde, setzt bei dieser Frage an: Was brauche ich, was brauchst du, um zu diesem Raum immer wieder zu kommen? Allein oder mit Begleitung geht es darum, die eigene Konfliktbiographie aufzudröseln, die Botschaften dadrin offen zu legen und zu bearbeiten, und die offene Haltung immer wieder zu üben, bis wir neue "Muskeln" geschaffen haben. Ich freue mich über euere Reiseberichte.

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