Die meisten Menschen, die ich treffe bzw. kenne tragen in sich ein Päckchen voller Ge- und Verbote. Das sind Sätze, die wir von unseren Bezugspersonen von Kind auf gehört oder mitbekommen haben, und die wir verinnerlicht haben, um in unserem Umfeld zurecht zu kommen. "Stell dich nicht so an", "Jetzt nerv nicht so rum!", "Was glaubst du, wer du bist?!", "Wie siehst du denn wieder aus?" übersetzen wir oft mit der Kernaussage: "Mach es allen recht", "Sei perfekt" und vor allem "Wage es nicht, du selbst zu sein".
Irgendwann merken wir vielleicht, dass wir unzufrieden mit unseren Strategien sind. Wie können wir entspannt Unterschiede oder Konflikte ansprechen, wenn wir gespeichert haben, dass z.B. die andere Person wichtiger ist als wir? Wie können wir unsere eigenen Grenzen wahrnehmen und formulieren, wenn wir als Kind eher dafür bestraft wurden, was anderes zu wollen als ein Elternteil?
--Spielplatzszene:
"Micha, wir wollen jezt mal nach Hause gehen!"
"Ich will aber jetzt nicht nach Hause!"
"Doch, und fang nicht an zu meckern sonst gibt's kein Eis nachher."--
-- Arbeisszene:
"Micha, dein Arbeitsbereich wird demnächst neu strukturiert. Wir müssen ein Projektangebot schreiben, um die Finanzierung zu sichern, und das heisst, dass du jetzt die beratende Tätigkeit eher an Kerstin abgibst, weil du die Koordinierung besser machen kannst."
Micha will die beratende Tätigkeit nicht abgeben und vor allem keine zusätzliche Koordinierung übernehmen. Doch Micha hat wiederholt erfahren, dass ihre Wünsche nicht ernst genommen werden und reagiert zögernd:
"[Schluck.] ... Ja also... ich muss mal gucken... Ich kann ja nicht meine Klientinnen einfach so abgeben..."
"Genau, lass es mal sacken und guck mal, wie du deine Klientinnen gut weitergeben kannst. Wir treffen uns nächste Woche um das alles einzutüten."
Wir haben mehr reaktionsmöglichkeiten
Wenn ich Menschen unterstütze und begleite, richte ich meine Aufmerksamkeit u.a. auf diese tief gespeicherten Glaubenssätze, die mein Gegenüber daran hindern, sich selbst zu sein. Bei diesem Beispiel von Micha in dieser Situation sind das vielleicht "Ich darf nicht nein sagen" "ich darf keine Wünsche äussern" "ich darf meine Meinung nicht zeigen".
Andere Reaktionsmöglichkeiten auszuprobieren kann sehr aufregend und beängstigend sein. Wie hätte Micha ihre Sichtweise zeigen können? Der Spektrum ist breit...
- Rebellisch: "Sag mal geht's noch?? Ich habe hier 20 Klientinnen, die ich betreue und ich soll sie einfach so abgeben? Und auch noch an so nem Antrag sitzen, meinst du ich sitze hier nur rum oder was??"
- Frei: "Au ja, Neustrukturierung! Ich wollte immer mal einiges ändern, das ist doch super! Die Beratung mache ich aber weiter, daran habe ich zu viel Freude, um das aufzugeben."
- Erwachsen (nach der TA) "Ach interessant, ich wusste gar nicht, dass es Neustrukturierungspläne gibt. Ich bin auf jeden Fall interessiert, daran mitzuwirken. Ich möchte zum Beispiel die beratende Tätigkeit behalten. Lass uns mal einen Termin machen, um in Ruhe über die Optionen zu diskutieren."
Die Frage ist dann, was eher dazu beitragen wird, unseren Gesprächspartner in einem Kontakt auf Augenhöhe mit uns einladen wird. Ich tippe auf die dritte Option.
Ein Teil der Prozessarbeit für Micha wird nun sein, sich immer wieder die Erlaubnis zu geben, ihre Meinung, ihre Perspektive, ihre Wünsche zu respektieren und zu formulieren. Damit sie ihr Leben und ihre Beziehungen, Stück für Stück, etwas mehr so gestaltet, wie sie sie gern hätte.
In der Prozessbegleitung würde ich mit Micha auf Kopf und Körperebene arbeiten, um Bewusstsein für die Dynamik zu schaffen und die Sicht auf Handlungsmöglichkeiten zu erweitern.