Sex und emotionale Prozesse

Wie sieht dein Sexleben aus? Die Frage kann erstmal überraschen, zumal wir uns vielleicht noch gar nicht kennen. Dennoch möchte ich die nicht aussparen: Sex kann ein radikaler Raum der Selbstbegegnung und Energiequelle für lebensverändernde Schritte sein. Ich halte Sex, die Art wie wir es gestalten, für einen wichtigen und kraftvollen Teil von emotionalen Prozessen.

Zunächst einmal: Sex bedeutet für uns alle etwas anderes, wird unterschiedlich praktiziert und definiert. Wo fängt Sex überhaupt an? Ist es Sex wenn ich mit der anderen Person "nur" intensiven sinnlichen Händekontakt habe? Hier beziehe ich mich auf sinnliche Begegnungen in einem vertrauensvollen Rahmen - ob solo oder mit einer/mehreren anderen Personen. Ich beschreibe, wie ich solche Begegnungen unterstützend für emotionale Prozessen gestalten kann. Wenn du dich darin nicht erkennst, ist das auch völlig in Ordnung. Vielleicht kriegst du aber Lust, etwas neues bei deiner nächsten sexuellen Begegnung auszuprobieren.

raum der Präsenz - ich bin hier

Sex kann wie eine Meditation geführt werden. Langweilig? Eher intensiv. Ich verstehe unter Meditation ein radikales Sein im hier und jetzt. Ich achte auf mein Atem, ich lasse die Gedanken, Bilder und Erwartungen kommen - und wieder gehen. Es geht mir nicht darum, möglichst nah an einem vorher ausgemalten Bild von der Begegnung  zu kommen ("Erst sollen wir uns leidenschaftlich küssen, dann soll ich so berührt werden und danach..."). Es geht mir darum, jetzt im Kontakt mit mir zu kommen - und wenn eine andere Person dabei ist, auch mit dieser Person. Was will ich? Was für einen Kontakt möchte ich jetzt gerade? Was kommt in mir hoch? Wenn ich merke, ich bin nicht ganz aufmerksam ("Ah, Ärger, ich muss ja noch die Versicherung anrufen...") besinne ich mich wieder auf mein Atem. Bei anhaltender Unaufmerksamkeit spreche ich das aus und spüre nach, was ich brauche.

Ich nehme meine Grenzen wahr

Grenzen wahrnehmen ist vielleicht noch das einfachste. Wie oft tust du etwas oder lässt etwas mit dir passieren, wo du merkst, du möchtest es eigentlich gerade nicht, oder nicht 100%? Da war eine Grenze. "Ich möchte jetzt gerade nicht küssen." "Ich möchte jetzt gerade nicht schnell berührt werden." "Ich möchte jetzt gerade nicht im Brustbereich berührt werden." Eine Grenze wird spürbar, sobald eine kleine innere Stimme "nein" sagt, ein unwohlsein bei uns aufkommt, vielleicht eine Enge im Brustraum. Hör auf sie.

ich darf nein sagen - du darfst nein sagen

Und wenn du schon auf diese innere Stimme hörst, dann gib ihr auch Raum. Sie darf hier sein. Sie darf nein sagen. DU darfst nein sagen. Oder um eine Pause bitten. "Nein" heisst nicht, dass du die Begegnung als ganzes nicht willst, oder dein Gegenüber ablehnst. Wenn du selber ein nein bekommst, heisst es auch nicht, dass du ein Fehler gemacht hast. Vielleicht triggert der "Nein" viel - Scham, Verletzlichkeit, Angst, Unsicherheit. Lass es da sein, möglichst ohne es auf dein Gegenüber zu projizieren. Intimität ist der Raum der entsteht, wenn Verletzlichkeiten willkommen sind.

 

Wenn du "nein" sagst, oder deine Grenze zeigst, hilfst du deinem Gegenüber dabei, das zu tun, was du gerne haben möchtest.

Wenn du ein "nein" bekommst, kannst du erleichtert sein, nicht in der Situation belassen zu sein, etwas zu tun, was dein Gegenüber nicht ganz (oder gar nicht) geniesst. Lerne "nein" zu schätzen. Gib dir/ deinem Gegenüber Wertschätzung für diese Ehrlichkeit, für diesen Ausdruck von (Selbst-)Respekt. Und lerne in Kontakt zu bleiben mit dem, was um den "nein" herum bei dir hochkommt.

Meine gefühle sind willkommen

Ja wirklich! Stereotypische Darstellungen von Sex legen nahe, dass es dabei reine Freude und Lust geben sollte. Das darf auch ruhig da sein, dennoch ist die Erfahrung um so bereichernde, wenn das ganze Rumrum auch da sein darf: Trauer; Wut; Scham; Angst... "Da sein darf" heisst für mich: Ich darf es spüren - ich muss es nicht unterdrücken um ein Ideal zu entsprechen; Ich darf es zeigen und sagen, was bei mir da ist; Ich darf den Raum nehmen, um damit in Kontakt zu sein, und eine Pause einlegen.

 

Warum sollten Trauer, Wut, Scham oder Angst überhaupt ins Spiel kommen? So viele Gründe. Die Situation mit dem "nein" kann viel auslösen. Oder du spürst vielleicht Trauer und Wut darüber, dass du in anderen Situationen deine eigenen Grenzen nicht respektiert hast - oder dass ein Gegenüber deine Grenzen nicht respektiert hat. Das kommt plötzlich hoch. Oder vielleicht spürst du Scham, weil du negative Glaubenssätze über deinen Körper gespeichert hast. Oder vielleicht ist eine dir-nahe Person vor kurzem gestorben, und du steckst im tiefen Trauerprozess. Plötzlich mitten im Genuss erscheint der Tod und der Verlust.

 

Sag was ist. Sag, was da ist. Sag, was du brauchst - eine Pause, eine Umarmung, eine Hand auf dem Bauch oder auf dem Herzen. Spür die Empfindungen in deinem Körper. Vielleicht zitterst du, vielleicht weinst du. Das ist alles OK.

Der körper als emotionales ü-ei

Und manchmal kommen Gefühle hoch, ohne das klar ist woher. Meine Erfahrung ist, dass viele von uns Gefühle in unserem Körper "parken". Ich habe eine Menge kleine Gefühlsblasen in meinem Beckenbereich zum Beispiel. Mein Bild ist, dass diese Blasen, dieser zur Seite gelegte Schmerz aus alten (Grenz)Verletzungen, bei bestimmten Berührungen ohne Vorankündigung "hochploppt". Die Kruste um den Schmerz entspannt sich, der alte Schmerz fliesst raus aus dieser kleinen Tasche und plötzlich ist Trauer da. Oder Wut. Oder sogar beides.

Ich darf ja sagen

Ich darf ja sagen, zu dem was ist. Diese Erlaubnis ist für mich eine der Wichtigsten, um mit sich in Kontakt zu sein und lösende Prozesse zu führen. Loslassen, annehmen, in Kontakt bleiben. Dadurch wächst die Offenheit und die Intensität des Kontakts vertieft sich.

 

Das wünsche ich dir.

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